Ernährung: „Fleischlose Welt ist unrealistisc...
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Fleisch stand früher für Fortschritt, Wohlstand und Gesundheit. Gilt es heute als Symbol für „Weltfraß” und nachlässigen Umgang mit dem Körper?
Fleisch stand früher für Fortschritt, Wohlstand und Gesundheit. Gilt es heute als Symbol für „Weltfraß” und nachlässigen Umgang mit dem Körper?

FRANKFURT Der Mensch, von Natur aus Fleischfresser – stimmt dieses Bild heute noch? Im Interview mit Ökothrophologin Eva-Maria Endres und Kulturanthropologe Gunther Hirschfelder wird diese Frage beleuchtet.

Herr Hirschfelder, warum essen wir eigentlich Fleisch?


Gunther Hirschfelder: Weil Fleisch gleichbedeutend mit Überleben ist. Der Mensch entwickelte sich erst dann weiter, als er über eine stabile Protein- und Fettzufuhr verfügte. Nur durch diese Kombination ist das menschliche Hirn gewachsen. Die Bildung von Gesellschaften und Hierarchien ist unmittelbar mit dem Zugriff auf tierisches Protein verknüpft. Fleischkonsum ist sozusagen kulturell eingraviert über die komplette Menschheitsgeschichte.

Wie ist das in der deutschen Kultur?

Eva-Maria Endres: Fleisch war lange Zeit den wohlhabenderen Schichten vorbehalten, und stand in der deutschen Esskultur für Wohlstand, Macht, Männlichkeit. Das ist wichtig zu wissen, weil wir nur so nachvollziehen können, woher die relativ neue Kritik am Fleisch herrührt: Die ist erst durch die Demokratisierung des Fleischs möglich. Das heißt, heute kann es sich jeder leisten.

Hirschfelder: Wir können es uns jetzt erst leisten, den Fleischkonsum kritisch zu hinterfragen. Die Kritik an Fleisch ist Resultat einer Überversorgung und unserer Überflussgesellschaft. Fleisch wurde von einem Symbol für Fortschritt, Wohlstand und Gesundheit zum Symbol für „Weltfraß” und nachlässigen Umgang mit dem Körper.

Waren Vegetarismus/Veganismus eine Abweichung von der Norm? 

Hirschfelder: Wie so oft gibt es keine Norm. Jede Kultur ist so gestrickt, dass sie maximale Überlebensstrategien entwirft. Und grundsätzlich alle Kulturen, von der Altsteinzeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, kämpften mit einer teilweise erheblichen Kalorien- und Proteinunterversorgung. Seit wir Massen-, Konsum- und Industriegesellschaft sind, reflektieren wir anders über Tierleid. Der vormoderne Mensch wäre nicht auf die Idee gekommen, Fleisch zu kritisieren.

Fleisch bedeutete lange Überleben: War der Geschmack also unwichtig?

Endres: Über die Frage des Geschmacks diskutieren wir erst seit einigen Jahrzehnten. Davor kam das auf den Tisch, was da war – teilweise auch monatelang Kartoffeln.

Hirschfelder: Wir sind seit Urzeiten auf den Fleischgeschmack konditioniert, genauer gesagt auf den Geschmack von Eiweiß. Er lässt sich in vegetarischen oder veganen Gerichten durch fermentiertes Gemüse oder getrocknete Pilze erzeugen.

Gibt das Elternhaus vor, was wir mögen oder nicht? 

Endres: Zunächst essen Kinder das, was die Eltern essen. Selbst wenn sich Kinder gern abgrenzen, gibt es wenig Spielraum. Als Jugendliche findet dann die Emanzipation vom Elternhaus statt und da kann es passieren, dass sie bewusst den gegenteiligen Weg der Eltern einschlagen.

Hirschfelder: Meine These: Eine Gesellschaft, die wie wir gerade in den Krisenmodus schaltet, tendiert eher dazu, zu Hause gelernte kulturelle Muster beizubehalten.

Warum bietet Fleisch – aber auch Verzicht – so viel Konfliktpotenzial?

Endres: Fleisch ist ein symbolträchtiges Lebensmittel, weil damit unglaublich viele Werte verbunden sind. Fleisch steht für Wohlstand, Macht, Männlichkeit und Gewalt – denn man muss Tiere dafür töten. Alles Werte, die in unserer Gesellschaft anteilig infrage stehen. Beispiel Sonntagsbraten: Fleischzubereitung und Esstradition sind eng verbunden mit der Frauenrolle im Haushalt. Welche Frau will sonntags vier, fünf Stunden in der Küche stehen? Ihre Emanzipation hat auch damit zu tun, dass sich der Fleischkonsum verändert.

Hirschfelder: Tiere töten ist eine anthropologische Konstante, die wir in allen Kulturen haben. Wir sind in Bezug auf viele Dinge, die wir tun, dissonant. Wir begehen als Gesellschaft zu großen Teilen den Denkfehler, als Individuum die Probleme der Welt lösen zu wollen – indem wir über uns selbst nachdenken und versuchen, das eigene Verhalten zu verändern. Bei mehr als acht Milliarden Menschen auf der Welt ist unser Einfluss äußerst gering.

Meist diskutieren beide Lager in den sozialen Medien. Erscheint sie uns deshalb so laut? 

Hirschfelder: Wir reden über Filterblasen, die oft wenig Schnittmenge haben. Und wir sehen Diskurse über Fleisch oder Alternativen, die in der Alltagspraxis anders aussehen. Ich erlebe junge Studenten vom Dorf, die das Schnitzel der Mama in die Pausenbox gepackt bekommen, aber unter der Woche an der Uni vegan leben. Und Samstag wieder den Braten der Mama essen.

Endres: Ein weiterer Punkt: Wir reden immer abfällig von unserem hohen Ross. Wir haben ein festes Einkommen und können es uns leisten, über Ernährungsfragen nachzudenken. Viele Menschen können es nicht. Es würde beiden Parteien guttun, miteinander zu reden und zu versuchen, die andere Position nachzuvollziehen. Es gibt verschiedene Lebensweisen, und es ist wichtig, sie zu akzeptieren.

Was verknüpfen wir mit Vegetarismus oder Veganismus? 

Endres: Wenn man sich historisch anschaut, wer fleischlos lebte, können wir bei den Pythagoreern anfangen und uns die Lebensformbewegung um 1900 und die Generation der 68er anschauen. Sie alle haben eines gemeinsam: Rebellentum. Wer sich von der Gesellschaft abgrenzen wollte, ernährte sich vegetarisch. Im Altgriechischen gibt es den Begriff der Moira, das bezeichnete den Fleischanteil, den jedes Mitglied der Gesellschaft je nach seiner gesellschaftlichen Stellung zugeteilt bekam. Wer kein Fleisch wollte, verweigerte sich automatisch dem gesellschaftlichen System. Im Umkehrschluss wurde Vegetarismus deshalb immer kritisch beäugt – das hat sich heute geändert, etwa durch die Beschäftigung mit dem Klimawandel oder die Fridays-for-Future-Bewegung.

Fleischverzicht ist also vielschichtig. 

Endres: Da sind wir wieder beim Thema Überflussgesellschaft: Erst wenn sich auch die ärmeren Schichten Fleisch leisten können, gibt es diese Diskussion. Wenn es im Discounter das Kilo Hackfleisch für 1,89 Euro gibt, dann distanzieren sich wohlhabende, gebildetere Schichten und etablieren eine andere Form der Esskultur.

Hirschfelder: Es ist nie so, dass eine Bevölkerungsmehrheit aufgrund von Bildung oder Wissen überzeugt ist, kein Fleisch zu essen. Wir haben eine urbane mediale Elite, die über Fleischverzicht spricht, und wir haben Gruppen, die das schlicht nicht interessiert. Und es gibt Geflüchtete aus dem afrikanischen und arabischen Raum, die froh sind, wenn sie billig Geflügel essen können. Sie haben daheim gelernt, dass ihre Geschwister verhungert wären, wenn sie nicht genug Fett und Fleisch haben. Fleischverzicht ist immer ein Stück Luxus. Hinzu kommt: Wenn wir eine Hochkonjunktur haben, können wir über Vegetarismus sprechen. Wenn wir eine Inflation von zehn Prozent haben und in eine Rezession rutschen, werden Ideale schnell über Bord geworfen.

Wird es eine fleischlose Welt geben? 

Endres: Das hängt von vielen Faktoren ab. Wir erwarten oft ein bisschen zu viel. Ich vergleiche das gern mit dem Thema Rauchen: In den 1970er-Jahren war der Zigarettenkonsum auf Rekordniveau. Seit den 1950er-Jahren weiß man, dass Rauchen schädlich ist. Trotzdem dauerte es knapp 70 Jahre, bis ein gesellschaftlicher Wandel eintrat. Ernährung und Fleischkonsum sind viel komplizierter.

Hirschfelder: Wir brauchen ein bestimmtes Quantum Protein. Ich glaube, viele Menschen gehen in eine freiwillige Verzichtsspirale — mit gesundheitlichen Folgen, die wir noch nicht kennen. Wir haben keine Langzeitstudien zu Veganismus. Aber es gibt auch belegte negative Folgen von Fleischkonsum. Dennoch: Etwa eine Milliarde Menschen hungern – Tendenz steigend. Wir reden zwar darüber, dass sie genug zu essen haben sollen, aber kaum darüber, dass sie genug Protein brauchen. Also nein, eine Welt ohne Fleisch halte ich für nicht realistisch.

Endres: Ich im Übrigen auch nicht.
Die Gesprächspartner

Eva-Maria Endres hat Ökotrophologie und Public Health Nutrition studiert und forscht zu Esskultur, Ernährungsverhalten und -kommunikation.

Prof. Gunther Hirschfelder ist Kulturanthropologe und forscht an der Uni Regensburg über die Strukturen der Ernährung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Interview-Quelle: „AnGERICHTet – ein Stimmungsbericht von Deutschlands Esstischen“ – eine Studie von Rügenwalder Mühle in Kooperation mit dem Meinungsforschungsinstitut YouGov.

Quelle: afz - allgemeine fleischer zeitung 8/2023



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